Marion Pelny
„Die Wismut ist ein Staat im Staate,
und der Wodka ist ihr Nationalgetränk.“
Werner Bräunig (1965)
1962 – im Süden von Ostdeutschland
Elisa glaubte nicht an Gott. Doch an diesem Tag ging sie in die Kirche und setzte sich in eine der hölzernen Bankreihen. Sofort hatte sie einen modrigen Geruch in der Nase und hätte nicht sagen können, ob es die Erinnerung an die Kirche ihrer Kindertage war oder ob der Geruch wie Spinnweben auch in dieser Kirche hing. Sie waren gerade erst hierher gezogen und normalerweise wäre die Kirche der letzte Ort gewesen, den sie aufgesucht hätte. Sie betrachtete die bunten Scheiben, von denen einige zerbrochen und notdürftig geflickt waren. Dort, wo Maria eigentlich ihr Kind hielt, war statt des Kindes ein braunes Viereck aus Brettern angenagelt, um den Innenraum vor Wind und Wetter zu schützen.
Elisa war auf dem Weg vom Frauenarzt nach Hause zur Kirche abgebogen, hatte das schwere Kirchentor aufgeschoben und dabei instinktiv die freie Hand schützend vor ihren Bauch gehalten. Es war noch nicht viel zu sehen. Wahrscheinlich konnte nur sie selbst die Wölbung ihres Bauches als das Nest erkennen, indem es sich ihr Kind gemütlich gemacht hatte. Allzu wohl jedoch schien es sich nicht zu fühlen. Der Arzt hatte Elisa über seine Brillengläser hinweg angesehen und gesagt, sie solle sich schonen. Er schrieb sie krank, sie sollte möglichst viel liegen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Schließlich war da noch Matthias, der mit seinen fünf Jahren ihre Zuwendung forderte, und ihr Mann, der erwartete, dass sie den Haushalt in Schuss hielt.
Am Himmel schien sich gerade ein Wolkenvorhang verzogen zu haben, die bunten Glasscheiben begannen zu leuchten und durch eine der kaputten und noch nicht reparierten Scheiben drängte sich ein Sonnenstrahl in den Kirchenraum. Er traf Elisa und es schien ihr, als würde dieser schmale Strahl ihren Bauch wärmen. Sie begann, im Stillen zu beten, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Lieber Gott, betete sie, gib mir ein Zeichen. Wenn es dich wirklich gibt, dann lass dieses Kind bei mir bleiben und lass es unsere Wunden heilen. Ein Mädchen wäre schön, das würde ihn halten. Aber ich – ganz sicher – ich würde auch einen weiteren Jungen lieben. Sie schloss die Augen und spürte die kleinen, fast unmerklichen Bewegungen des Kindes, als hätte es ihr Gebet verstanden.
12 Monate später
Elisa musste noch oft an diese Stunde in der Kirche denken. Wenn sie an Gott glauben würde, hätte sie sich vorstellen können, dass er sie erhört hatte. Es war ein Mädchen geworden, ein winziges, knopfäugiges Wesen, das mit schriller Stimme ihre Forderungen in die Welt schrie und versuchte, das Untergewicht, mit dem es auf die Welt gekommen war, durch ständiges Trinken an Elisas ausgelaugter Brust wieder aufzuholen. Sie stillte nicht lange, schließlich musste sie nach sechs Wochen wieder arbeiten gehen, da war es einfacher, Fläschchen zu kochen. Weil sie noch keinen Krippenplatz hatte, ließ sie das Kind stundenweise allein zu Hause, während sie in der Schule anderer Leute Kinder unterrichtete.
Sie wusste nie, ob das Kind in dieser Zeit schrie oder schlief. Einmal kam sie nach Hause, da hatte es sich die Windel, die es unter dem Kopf liegen hatte, mit der Faust ins hungrige Mäulchen gestopft und drohte schon blau anzulaufen, weil es keine Luft mehr bekam. Von da an nahm Elisa das Kind mit in die Schule, dort stand es nun im engen Lehrerzimmer, wurde von den Kollegen zur Seite geschoben, wenn sie an ihren Platz wollten, und nicht nur Elisa war froh, als sie endlich einen Krippenplatz bekam – gleich neben dem Kindergarten, in den Matthias ging.
Kurz danach konnten sie auch endlich und zum Glück noch vor dem Winter aus der zugigen Baracke ausziehen, in der sie eine notdürftige Unterkunft bezogen hatten, nach dem ihr Mann hierher, ganz in den Süden der Republik, strafversetzt worden war. Er hatte ein Verhältnis mit einer Praktikantin gehabt. Elisa war den Genossen dankbar, dass sie ihrem Mann die Leviten lasen, auch wenn sie nicht gern in den Süden ging. Sie wusste, es war nicht die erste andere Frau in ihrer Ehe, aber sie hoffte, dass es die letzte war. Auch weil ihm die Genossen unmissverständlich sagten, dass ein weiterer Vorfall dieser Art seinen Ausschluss aus der Partei bedeuten würde.
Sie zogen in die Bergarbeitersiedlung in ein 4-Familien-Haus. Es stand etwas abseits von den übrigen Häusern ganz am Ende der Straße, nahe an den Bäumen, deren Äste bei stürmischem Wetter geräuschvoll an der Hauswand schabten und dem Kind Angst machten. Dem Kind, das tatsächlich ein Mädchen geworden war und seinen Vater mit jedem noch so zaghaften Lächeln zu Tränen rühren konnte. Dabei lächelte es selten, aber auf unerklärliche Weise schienen sich die Momente, in denen der Vater anwesend war, und die, in denen das Kind lächelte, zu überschneiden. Elisa hatte das Gefühl, dass ihr das Kind nie ein Lächeln schenkte. Nur dieses schrille Schreien, mit dem sie sich immer gefordert fühlte. Immer wollte das Kind irgendetwas von ihr. Sie hetzte zwischen Windeln waschen, Fläschchen kochen und Klassenarbeiten korrigieren hin und her und verfluchte die Entscheidung ihres Mannes, noch einmal ein Fernstudium aufzunehmen. Dazu fuhr er regelmäßig für mehrere Tage nach Jena an die Universität. Sie redete sich ein, dass alles einfacher wäre, wenn er hier wäre und sie unterstützen würde.
Drei Jahre später
Eines Morgens kam Matthias aus dem Zimmer gerannt, das er sich mit dem Kind teilte, stürmte in das Schlafzimmer und rief:
„Sie kotzt… sie kotzt auf den Teppich…“
Elisa war sofort hellwach, schlug die Bettdecke zur Seite, lief ohne ihre Schuhe zu suchen und auch, ohne Matthias für seine Ausdrucksweise zu ermahnen, ins Bad, um eine Schüssel zu holen. Als sie ins Kinderzimmer kam, sah sie den Kopf des Kindes über den Gitterstäben des Bettchens hängen wie ein blasses Gespenst. Mit tief liegenden Augen schaute es abwechselnd zu ihr und zu der Pfütze, die sich unter ihr auf dem Teppich ausgebreitet hatte. Elisa fluchte. Das Kind hatte offensichtlich Fieber und sie würde zu Hause bleiben müssen. Noch schlimmer war, dass der Teppich sich nicht so ohne weiteres von den unverdauten Resten des Abendbrotes befreien ließ. Matthias stand neben ihr und hielt sich die Nase zu. Sie selbst konnte nur mit Mühe den Brechreiz unterdrücken, den der saure Geruch ihr verursachte und der noch Tage im Raum hing.
Elisa hörte auf zu zählen, wie oft das Kind sich erbrach. Immer nur ein Mal. Immer nur am Morgen. Ein paar Stunden Fieber, dann ging es dem Kind besser und am nächsten Tag war alles vergessen. Nach ein paar Wochen dasselbe Spiel noch einmal. Nach dem dritten Mal zog sie den Teppich vom Bett des Kindes weg, so dass sie wenigstens nicht jedes Mal auch noch den Teppich mühsam reinigen musste.
Eines Tages stand Gerda, Elisas Kollegin, vor der Tür und wollte mit ihr sprechen. Elisa betrachtete Gerda als so etwas wie eine Freundin, obwohl sie nicht genau wusste, was eine Freundin ist und was man mit ihr besprechen könnte. Gerda hielt ihre Hände wie eine Schale um die Kaffeetasse, dass man meinen konnte, sie hielt den Kaffee darin warm. Das tat sie immer und Elisa war überzeugt, dass Gerda damit bewusst die Schönheit ihrer Hände betonen wollte.
Gerda schlürfte langsam den Kaffee und Elisa wollte schon nachfragen, worum es denn ginge, als sie endlich anfing:
„Weißt du, die anderen reden schon.“
Elisa stockte der Atem. Nicht schon wieder, dachte sie.
„Wer ist es?“ fragte sie und unterdrückte das „dieses Mal“.
„Das ist doch unwichtig“, entgegnete Gerda, „wir sehen es doch alle.“
Du lieber Gott, dachte Elisa, alle wissen es, nur ich nicht.
Sie schwieg.
„Es ist immer montags und wir fragen uns wirklich, was der Grund ist.“
In Elisa wirbelten die Gedanken wie Schneeflocken im Sturm. Keinen bekam sie zu fassen. Nur „montags“ blieb haften und sie fragte sich, wo ihr Mann montags immer war. Zu Hause eigentlich, jedenfalls gleich, nachdem sein Unterricht zu Ende war und natürlich nur, wenn er nicht gerade nach Jena abgereist war. Vielleicht hätten sie doch lieber nicht wieder an der gleichen Schule unterrichten sollen. Jetzt würde sie wieder zum Gespött des gesamten Kollegiums werden. Hätte es etwas geändert, wenn sie es nicht wusste? Wollte sie es vielleicht lieber nicht wissen? War es nicht einfacher, wenn sie es nicht wusste?
Ihr Gesicht blieb starr und ungerührt, keine Regung ließ sie nach Außen dringen, kein Wimpernschlag. Gerda fröstelte, bevor sie erneut ansetzte:
„Das ist doch unnormal, dass deine Kleine immer montags krank wird. Immer müssen wir dich montags vertreten. Und auch nur diesen einen Tag.“
Elisa blinzelte und versuchte, die Worte zu sortieren. Es ging nicht um ihn, begriff sie, es ging um das Kind. Langsam begann sie zu sprechen: „Tatsächlich? Immer montags?“
Gerda nickte. „Manche denken schon, dein Mann schlägt dich am Wochenende und du musst dich dann erholen oder so. Das kann doch nicht sein, dass ein Kind immer montags krank wird.“
Elisa lachte auf, etwas zu schrill, so dass Gerda wie unter einem Stromschlag zusammenzuckte. Dann sagte sie:
„Ja, das kann gar nicht sein“, und begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen. Sie ließ die letzten Monate Revue passieren. Das Kind erbrach sich tatsächlich immer montags. Nicht jeden Montag, das wurde Elisa allmählich klar, das Kind brach nur an jenen Montagen, an denen sein Vater nach Jena reiste, um für eine Woche dort zu studieren. Zu Gerda sagte sie das nicht. Es kam ihr viel zu absurd vor, um es auszusprechen.
Aber ihm sagte sie es, als er nach Hause kam. Sie sah, wie sehr ihm diese Offenbarung schmeichelte.
Vielleicht war es ja nur Zufall, bangte sie. In den nächsten Wochen lauerte sie auf diese Montage, an denen ihr Mann das Haus Richtung Jena verließ. Sie fühlte sich wie eine Siegerin, wenn das Kind sich wieder übergab. Eine rechtzeitig bereit gestellte Schüssel hielt das Dilemma in Grenzen, ein Fieberzäpfchen ermöglichte es, das Kind trotzdem in den Kindergarten zu bringen, und sie musste ihren Mann nicht belügen, wenn sie ihm zu erklären versuchte, dass seine Abwesenheit für die Familie nicht gut war. Sie sah, wie er die Tatsache genoss, dass das Kind ihn so schmerzlich zu vermissen schien. Manchmal gab es ihr allerdings auch einen kleinen Stich, wenn sie glaubte, er würde es nicht halb so sehr genießen, wenn sie selbst ihn so schmerzlich vermisste. Aber was spielte das im Endeffekt für eine Rolle. Das Ergebnis war das Gleiche: nach diesem Studium, so versprach er, würde er kein neues beginnen, sondern wieder ganz für die Familie da sein. Noch ein paar Montage, dann hätte der Spuk ein Ende.
Der 1. Tag
An einem Samstagabend, an dem ihr Mann aus Jena zurückkehren sollte, war das Schneetreiben so dicht, dass Elisa keine zehn Meter weit die Straße hinunter sehen konnte. Die Bäume schabten an der Hauswand, das Kind, das inzwischen bei dem Geräusch wenigstens nicht mehr zu weinen begann, starrte beim Abendessen ängstlich nach draußen. Es kaute langsam auf seinem Brot herum, das auf seinem Teller einfach nicht weniger wurde.
„Wo ist Papa?“ fragte es schmatzend.
Elisa antwortete nicht und Matthias ahmte die Erwachsenen nach:
„Mit vollem Mund spricht man nicht!“
Das Kind maulte, ließ das Brot auf dem Teller liegen und rutschte vom Stuhl. Matthias wollte das Kind erneut ermahnen, als ihn eine Geste von Elisa zum Schweigen brachte.
Diesmal erbrach sich das Kind schon in der Nacht. Nur war es inzwischen groß genug, rechtzeitig den Weg ins Bad zu schaffen. Es weckte seine Mutter nicht, sondern kroch mit schmerzendem Magen wieder unter die warme Bettdecke. Dabei schlief Elisa gar nicht, sie wälzte sich im Bett und fragte sich, wo ihr Mann geblieben war. Am Morgen hatte das Kind Fieber.
Der 2. Tag
Elisa brauchte eine Weile, bis sie das Klopfen zuordnen konnte. Jemand klopfte an der Wohnungstür. Sie wunderte sich, dass es nicht klingelte. Sie öffnete. Anita Würfel, die über ihr wohnte, stand im Halbdunkel des Hausflurs und fragte:
„Haben Sie auch keinen Strom?“
Elisa zuckte die Schultern und drückte auf den Lichtschalter neben der Tür. Das Licht blieb aus.
„Scheint so“, sagte sie.
„Na, das kann ja heiter werden“, Anita Würfel zog die Ärmel ihres Pullovers über ihre Hände, während sie weiter sprach: „Haben Sie schon gesehen? Wir kommen gar nicht mehr aus dem Haus raus.“
Elisa trat aus ihrer Wohnung ins Treppenhaus und sah hinunter zur Haustür. Hinter den neun quadratisch angeordneten Scheiben war nichts als ein gleichmäßiges Grau zu sehen, als hätte jemand in der Nacht die Scheiben mit grauer Farbe gestrichen. Sie seufzte. Das konnte nur bedeuten, dass ihr Mann irgendwo im Schnee stecken geblieben war. Die Vorstellung, dass sie nun auch am Wochenende die Kohlen allein hoch schleppen musste, trieb ihr angesichts der Arbeit, die sie sowieso schon vor sich hatte, die Tränen in die Augen. Bloß gut, dass die Zeit des Windelwaschens vorbei war, sonst hätte sie die Windeln auf dem Gasherd auskochen müssen. Die andere Wäsche musste dann eben liegen bleiben, bis der Strom wieder da war. Stumm stand sie vor Anita Würfel und wusste nichts mehr zu sagen.
Eine halbe Stunde später hatte sie endlich Batterien für die Taschenlampe gefunden, um in den Keller zu steigen. Schon wenn das elektrische Licht funktionierte, gruselte es sie dort unten. Jetzt musste sie mit dem schmalen Lichtkegel der Taschenlampe auskommen. Sie stieg vorsichtig die Kellertreppe hinunter. Die Steinstufen waren ausgetreten und an einigen Stellen war der Mörtel aus den Ritzen gebröckelt. Im Kegel der Taschenlampe warf jede Unebenheit gespenstische Schatten. Auf der fünften Stufe zog Elisa den Kopf ein, um nicht an die Gasleitung zu stoßen, die quer unter der Decke entlang lief. Im Kellerverschlag angekommen, stellte sie scheppernd die Eimer ab. Mit der Kohlenzange schlug sie gegen die Eimer, um die Ratten zu verjagen, die sich hier heimischer fühlten, als ihr lieb war. Die Kohlenzange hatte sie sich besorgt, nachdem sie einmal beim Greifen nach den Kohlen eine Ratte berührt hatte, die quiekend davon rannte. Sie hätte nicht sagen können, wer mehr erschrocken war: sie oder die Ratte.
Mit der Kohlenzange konnte sie aber auch ihre Hände schonen. Der Kohlenstaub setzte sich sonst in jede Pore, machte sie spröde und hinterließ schwarze Risse, so dass sie ihre Hände am liebsten versteckt hielt. Die Kälte sorgte dafür, dass sie zusätzlich rot und entzündet aussahen, egal wie gut sie mit Florena Creme eingecremt waren. Penaten Creme würde helfen, die hatte ihr Gitta Gründel, ihre Nachbarin von gegenüber, vor zwei Jahren mal gegeben. So ein kleines Döschen, das die Leute im Westen als Probierpackung nachgeworfen kriegen. Elisa musste die Dose vor ihrem Mann verstecken, der keinen „Westschund“ in ihrem Haushalt geduldet hätte. Einen Winter lang hatte sie keine entzündeten Hände gehabt. Da war die Kohlenzange wenigstens eine halbwegs brauchbare Alternative.
Die vollen Kohleneimer zogen an ihren Armen wie Bleigewichte. Sie fragte sich, wie Anita Würfel das bis in die zweite Etage schaffte. Deren Mann saß seit zwei Jahren im Gefängnis und sie musste ihre Kohlen seit dem immer selbst nach oben schleppen. Obwohl sie ja auch den Holger fragen konnte, mit seinen vierzehn Jahren hätte sie wohl ein wenig Hilfe von ihm erwarten können. Doch Elisa hatte ihn nie seiner Mutter helfen sehen. Manchmal hörte sie, wie die beiden in der Wohnung über ihr stritten. Sie kannte Holger aus der Schule, obwohl sie ihn selbst nicht unterrichtet hatte. Er war manchmal Gesprächsthema im Lehrerzimmer. Die Kollegen konnten mit ihm nichts anfangen. Er warf mit Papierkügelchen durchs Klassenzimmer, quatschte dazwischen, wusste alles besser, bekam ständig Tadel eingeschrieben. Es waren genug, um ihn längst der Schule zu verweisen. Andererseits gewann er jedes Jahr die Matheolympiade und war ein Pluspunkt für die Schule im sozialistischen Wettbewerb. Er gewann nicht nur die Olympiade, sondern er bekam scheinbar ohne Probleme auch alle erreichbaren Zusatzpunkte, obwohl er im Matheunterricht nie zuhörte. Seine Mutter jedenfalls schien mit ihm so wenig klar zu kommen, wie die Lehrer in der Schule.
Elisa heizte die Öfen im Wohnzimmer und im Kinderzimmer an. Matthias spielte mit seinem Indianerfort, während das fiebernde Kind ihm vom Bett aus zusah und ab und zu mit piepsender Stimme das Geschehen kommentierte. Der Sonntag verstrich und wäre aus Elisas Bewusstsein gefallen wie jeder andere Sonntag, wenn nicht die Schneemassen gewesen wären, die sich inzwischen bis an ihre Fensterbretter herangeschichtet hatten.
Sie hauchte an die Fensterscheibe und rieb mit dem Ärmel ein Loch in die filigranen Blumenmuster, die das Eis gebildet hatte. Es schneite immer noch und in scheinbarer Ferne verschwanden die anderen Häuser der Siedlung hinter weißen Schleiern. Die Bäume am Haus ließen ihre mit Schnee beladenen Äste weit in die Tiefe hängen. Elisa liebte den Wald und dachte an die lauen Sommernächte, die sie, als sie gerade hergezogen waren, auf dem weichen bemoosten Boden unter den Buchen mit ihrem Mann verbrachte. Die schwankenden Wipfel und den weiten Himmel über sich. Alles wird gut, hatte sie damals gedacht.
Alles wird gut, dachte sie jetzt mit flauem Gefühl im Magen, während sie beobachtete, wie von den Ästen der Schnee rieselte, manchmal in einem Stück fast lautlos herabstürzte und die Äste in ihre ursprüngliche Position zurück schnellen ließ. Sie hoffte auf den nächsten Tag.
Der 3. Tag
Elisa hörte das Tapsen von Matthias’ nackten Füßen auf dem Dielenboden und sah mit einem Blick auf den Wecker, dass sie viel zu lange geschlafen hatte.
„Bist du krank?“ hörte sie Matthias fragen. Obwohl sie sich so fühlte, schüttelte sie den Kopf.
„Wir können ausschlafen“, sagte sie, „wir kommen immer noch nicht aus dem Haus raus.“
„Ach so“, Matthias blieb auf dem Rückweg in das Kinderzimmer zögernd an der Tür stehen. „Ich habe aber Hunger und sie ningelt auch schon die ganze Zeit rum.“
Elisa richtete sich auf. Sie versuchte aus dem Fenster zu sehen, aber längst hatten sich neue Eisblumen gebildet. Für einen Moment schien es ihr, als würde sich vor dem Fenster ein dunkler Schatten bewegen. Vielleicht war es irgendein größeres Tier, das sich auf der Suche nach Futter in die Nähe der Häuser gewagt hatte.
Sie zog sich warme Socken und ihren Morgenmantel an und schlurfte in die kalte Küche. Sie zündete alle Gasflammen an, setzte auf eine den Wasserkessel und ließ die anderen brennen, damit sich die Küche etwas erwärmte. Sie schmierte sich eine Leberwurstschnitte und dachte zu spät daran, das Messer zu säubern, bevor sie dem Kind das Marmeladenbrot schmierte. Egal, dachte sie, das Kind würde so oder so einen Grund zum Maulen finden. War es nicht das nach Leberwurst schmeckende Marmeladenbrot, war es der Malzkaffee, der zu heiß oder zu kalt war, oder der Fitz im Haar, an dem Elisa beim Kämmen der langen Haare hängen blieb. Sie hatte das Gefühl, sie konnte es dem Kind nie recht machen, es war den Versuch nicht wert. Mit Nachdruck stellte sie den Teller auf den Platz des Kindes und wappnete sich innerlich gegen die zu erwartenden Beschwerden.
Aus dem Zimmer der Kinder drang Geschrei zu ihr. Sie hatte sich längst abgewöhnt, sofort darauf zu reagieren. Meist beruhigten sich die beiden schnell wieder. Diesmal nicht, und bald glaubte sie, noch eine dritte Stimme herauszuhören. Als sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, schlug ihr eiskalte Luft entgegen und auf dem Boden raufte sich Matthias mit einem anderen Jungen. Der hatte einen Anorak und Schneestiefel an und eine Mütze auf. Erst als das Kind in das Gerangel der beiden eingriff und dabei dem fremden Jungen die Mütze vom Kopf zerrte, erkannte sie Holger, den Sohn von Anita Würfel.
Sie hörte das Kind wie im Trance immer wieder rufen: „Er hat ihn Naßi genannt… er hat ihn Naßi genannt…“ und brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass „Nazi“ gemeint war. Empört zerrte sie die Jungen auseinander und bemerkte erst jetzt, dass das Fenster sperrangelweit offen stand. Etwas Schnee war hereingerutscht und begann, unter dem Fenster Wasserlachen zu bilden.
Elisa hatte Holger am Oberarm gepackt. Trotz der Kälte im Zimmer war ihr heiß vor Wut.
„Weißt du überhaupt, was ein Nazi ist?“, fauchte sie Holger an.
„Die Kommunisten sind auch nicht besser.“
Holger hatte den Satz kaum ausgesprochen, da traf ihn die Hand von Elisa und hinterließ einen hellroten Abdruck in seinem Gesicht. Das Kind begann zu weinen, Elisa erstarrte.
„Entschuldige“, stammelte sie, „entschuldige“, ging ans Fenster, um es zu schließen, musste sich dabei gegen die von der Kälte verzogenen Flügel stemmen, ehe sie den Riegel herumdrehen konnte. Als sie sich wieder umdrehte, standen die beiden Jungen mit gesenktem Kopf vor ihr und erst jetzt kam es ihr in den Sinn, Holger zu fragen, woher er überhaupt gekommen war. Er antwortete nicht, sondern wies nur stumm mit dem Zeigefinger Richtung Decke.
„Du bist aus dem Fenster gesprungen?“
Holger nickte und mehr war aus ihm nicht herauszukriegen. Nach einer halben Stunde gab Elisa auf und brachte ihn an seine Wohnungstür. Anita Würfel öffnete erst beim zweiten, hartnäckigeren Klopfen und sah überrascht von ihrem Sohn zu Elisa und wieder zu ihrem Sohn, drehte sich um, zeigte wortlos auf Holgers Zimmertür, ließ die Hand wieder fallen, sah wieder zu ihm.
„Was ist passiert?“ fragte sie schließlich mit Blick auf Holgers durchnässte Hose und Jacke.
„Tja, wenn Sie es nicht wissen“, Elisa zuckte mit den Schultern, „irgendwas muss ja gewesen sein.“
Holger drängte sich an seiner Mutter vorbei in sein Zimmer und murmelte im Vorbeigehen:
„Sie hat mich geschlagen.“
„Ich?“ Anita Würfel schrie fast.
„Nee“, Holger drehte sich an der Zimmertür noch einmal um und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Elisa: „Sie.“
Anita Würfel starrte fassungslos Elisa an.
„Sie? Sind Sie wahnsinnig? Wie kommen Sie dazu, meinen Sohn zu schlagen?“
Elisa wand sich: „Es war nicht mit Absicht, glauben Sie mir, es war… es war ein Versehen.“
„Ein Versehen“, äffte Anita Würfel nach. „Ich werde Sie anzeigen! Gerade Ihnen, als Lehrerin, sollte so ein V-e-r-s-e-h-e-n ganz sicher nicht passieren. Die Zeiten sind ja wohl vorbei!“
„Aber ich bitte Sie“, Elisa versuchte sich zu rechtfertigen: „Ich weiß doch auch nicht… mein Mann ist verschwunden… und dann der Junge am Fenster… er ist raus gesprungen… dann nennt er meinen Sohn einen Nazi… Ich bitte Sie, schon allein das… aber dann sagt er noch, die Kommunisten seien auch nicht besser!“
Anita Würfel schwieg einen Moment. Elisa fühlte die Feindseligkeit im Blick von Anita Würfel wie eine Waffe auf sich gerichtet und musste genau hinhören, um ihre leise Antwort zu verstehen:
„Und? Ist es nicht wahr? Die haben schließlich meinen Gerald ins Gefängnis geworfen. Wundert mich gar nicht, dass Holger das so sieht.“
„Ja, irgendwas muss er ja gemacht haben“, gab Elisa zurück, „wegen nichts kommt hier niemand ins Gefängnis.“
„Das stimmt“, obwohl Anita Würfel langsam und ruhig sprach, spürte Elisa die Erregung in ihrer Stimme, „er hat Flugblätter verteilt. Das ist verboten. Aber wissen Sie auch, was da drauf gestanden hat?“
„Wird wohl was Staatsfeindliches gewesen sein!“
„Wenn Sie so wollen, könnte man das so verstehen. Er hat gegen die Arbeitsbedingungen im Schacht protestiert, hat dazu aufgerufen, bessere Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, hat gefordert, dass die Kumpel über die Gefahren des Uran aufgeklärt werden. Haben Sie sich nie gefragt, wieso Breitknechts Lisa drei Daumen hat? Oder Siegberts Wolfgang zwei zusammen gewachsene Zehen? Haben Sie sich das nie gefragt? Und Verena…?“ Sie deutete mit dem Kinn zur gegenüberliegenden Wohnungstür. Dort wohnten die Lindemanns mit ihrer Tochter Verena.
„Verena auch?“ Elisas Erschütterung war nicht gespielt. So schlimm konnte es ausgehen? Aber das dachte sie nur, sie bereute sofort, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte, das als Zustimmung hätte ausgelegt werden können. Noch ehe sie zu einer Antwort ansetzen konnte, fuhr ihr Anita Würfel dazwischen:
„Denken Sie doch, was Sie wollen, aber lassen Sie mich und meinen Sohn in Ruhe.“ Damit knallte sie die Tür vor Elisas Nase zu.
Elisa blieb unschlüssig stehen. Aus der Wohnung der Lindemanns hörte sie die unartikulierten Laute von Verena und die besänftigende Stimme ihrer Mutter. Sie zuckte zusammen, als Paul Lindemann unvermittelt die Tür öffnete und sich vor ihr genauso erschrak, wie sie vor ihm.
„Wollten Sie zu uns?“, fragte er.
„Äh – nein – ja – vielleicht“, Elisa überlegte einen Moment, „ können Sie mir vielleicht ein Ei geben, ich habe keine mehr und kann nun keine Panade für das Schnitzel machen.“
Paul Lindemann drehte sich um und rief in den dunklen Wohnungsflur:
„Hilde, haben wir genug Eier? Frau Petri fragt, ob sie eins haben kann.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zur Treppe und stieg mit schweren Schritten und zwei klappernden Kohleeimern an jedem Arm die Stufen hinunter. Frau Lindemann erschien in der Wohnzimmertür und winkte Elisa, doch hereinzukommen. „Ich seh mal nach“, sagte sie und öffnete die Küchentür. Elisa war noch nie in der Wohnung der Lindemanns gewesen. Die Wohnung schien heller als ihre im Erdgeschoss auf der anderen Seite des Hauses, wo die Bäume den Lichteinfall störten. Alles in dieser Küche schien seinen Platz zu haben. Nirgendwo ein Krümel oder schmutziges Geschirr. In der Mitte des schmalen Raumes war noch Platz für einen kleinen Tisch, auf dem eine Wachstuchdecke mit hellblauen Karos lag. An der Seitenwand standen helle, moderne Küchenschränke und gaben dem Raum eine Leichtigkeit, die das schwere, dunkelbraune Küchenbüffet in ihrer eigenen Wohnung niemals erzeugen konnte.
Elisa spürte ihre Erschöpfung und das Bedürfnis, sich hier einfach hinzusetzen. Sitzen zu bleiben. Sich der Fürsorge dieser Frau hinzugeben, die sie noch nie unwillig oder schlecht gelaunt erlebt hatte, die immer freundlich grüßte und doch mit der größten Last zu leben schien. Daran gab es für Elisa keinen Zweifel. Ein Kind zu haben, das kein vernünftiges Wort herausbrachte und nur mühsam laufen konnte, das erschien Elisa als eine unerträgliche Last. Lieber hatte sie ein Kind, das den Vater seiner Mutter aus unerfindlichen Gründen vorzog.
Hilde Lindemann reichte ihr ein Ei aus dem Kühlschrank. Elisa betrachtete es unschlüssig wie ein Geschenk, das sie nicht verdient hatte und konnte sich nicht durchringen, zu zugreifen. Wie aus heiterem Himmel schossen ihr die Tränen aus den Augen und sie zog tatsächlich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauf sinken. Hilde Lindemann legte das Ei zurück und setzte sich zu ihr an den Tisch. Ganz still saß sie einfach da und wartete, bis Elisas Schluchzen nachließ.
„Ist was passiert?“ fragte sie leise und Elisa antwortete wahrheitsgemäß:
„Ich weiß es nicht.“
Mehr sagten beide nicht, bis Verena in die Küche gehinkt kam und Elisa auf eine Weise anstrahlte, wie es das Kind nie getan hatte.
Der 4. Tag
Am nächsten Morgen hatte das Kind immer noch leichtes Fieber. Elisa sah aus dem Küchenfenster die Straße hinunter. Die Sicht war immer noch von Schleiern verhangen, doch in der Ferne schien eine Bewegung zu sein, die sie nicht interpretieren konnte. Es war, als würden die Schleier aufgewirbelt und in die Luft geschleudert. Dazwischen glaubte sie, dunkle Gestalten zu erkennen, ganz klein noch, weit weg.
Plötzlich hallte ein markerschütternder Schrei durch das Treppenhaus, der nicht enden wollte. Sie stürzte in den Hausflur. Dort kniete Gitta auf den kalten Fliesen und schrie und schrie. Die Wohnungstür hinter ihr stand weit offen. Gitta ließ sich nicht beruhigen. Irgendetwas musste in der Wohnung geschehen sein. Inzwischen war auch Anita Würfel herunter gerannt, hockte sich neben Gitta, schlang ihre Arme um Gittas schmale Gestalt und wiegte sie wie ein Kind. Gittas Schreie wurden allmählich schwächer, aber es war kein Wort aus ihr herauszubekommen. Elisa zögerte, dann betrat sie Gittas Wohnung, die aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Links aus der Küche schlug ihr schaler Biergestank entgegen, sie sah die zerbrochene Flasche am Boden, das schmutzige Geschirr, das sich in der Spüle stapelte, den Topf mit vergammelten Essensresten. Rechts im Wohnzimmer war ein Sessel umgekippt, auf dem Sofa lag Bettzeug. Hatte Gitta hier geschlafen? Und wo war Harald, ihr Mann? War dieses Chaos das Werk eines Einbrechers? Ausgerechnet beim Dorfpolizisten einzubrechen, wäre schon irgendwie aberwitzig. Elisa verwarf diesen Gedanken. Auch ein Einbrecher hätte sich nicht durch den Schnee kämpfen können. Wie hätte er denn hierher kommen sollen? Aber vielleicht war er schon vor dem Schneechaos hier und hatte sich in der Wohnung verschanzt? Und irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten und Gitta überfallen? Ein paar zerrissene Kleidungsstücke von Gitta schienen Elisas Befürchtung zu bestätigen. Aber wo zum Teufel war Harald? Seine Uniform war das einzige, das sorgfältig am Stubenbüffet aufgehängt von dem Chaos rundherum völlig unberührt geblieben war. Vom Wohnzimmer aus ging Elisa weiter. Sie warf einen Blick ins Schlafzimmer, dessen Tür wie in allen anderen Zimmern offen stand, und prallte zurück. Auf dem Bett lag Harald, der zu schlafen schien und von allem nichts mit bekam. Sie wollte sich schon umdrehen und wieder aus der Wohnung schleichen, bevor er aufwachte, als sie etwas inne halten ließ. Sie trat näher an das Bett und wunderte sich über Haralds verkrampfte Körperhaltung. Dann erst fielen ihr seine aufgerissenen Augen auf und der offen stehende Mund. Sie ging rückwärts wieder aus dem Zimmer, stolperte über seine Schuhe, drehte sich um und rannte zurück zu Gitta in den Hausflur, die sich in Anitas Armen etwas beruhigt hatte und unverständliche Sätze stammelte. Nach einer Weile konnte Elisa verstehen, was sie sagte:
„Das habe ich nicht gewollt, oh mein Gott, das habe ich nicht gewollt…“
Anita Würfel sah Elisa fragend an. Elisa deutete in die Wohnung.
„Er ist tot.“
Erst jetzt sah sie, dass Gittas linke Gesichtshälfte geschwollen war, sie das Auge nicht mehr öffnen konnte, und ihre Hand seltsam schief an ihrem Unterarm hing. Elisa sah zur Haustür, die Scheiben waren unverändert grau. Gitta brauchte einen Arzt. Für Harald konnten sie nichts mehr tun, außer für ein kaltes Schlafzimmer zu sorgen. Aber Gittas Arm sah schlimm aus, da würde vielleicht sogar ein Gips nicht reichen. Vielleicht musste sie operiert werden. Ihr Schreien war in Jammern übergegangen, sie hatte offenbar starke Schmerzen.
Anita Würfel ergriff die Initiative: „Ich nehme sie mit zu mir, in ihrer Wohnung kann sie nicht bleiben.“ Elisa nickte, suchte am Schlüsselbrett nach Gittas Wohnungsschlüssel, zog die Tür zu und drehte zweimal den Schlüssel im Schloss, als hätte sie Angst, der Tote könnte sich aus der Wohnung schleichen.
Erst jetzt merkte sie, dass das Kind mit wachen Augen in der Tür gestanden hatte. Sie wollte keine Fragen, auf die sie selbst keine Antworten wusste, und schob das Kind zurück in die Wohnung. Sie schloss ihre Tür von Innen ab und legte die Kette vor, was sie nie tat, wenn sie auf ihren Mann wartete.
Zurück in ihrer Küche sah sie, dass die dunklen Gestalten und die aufwirbelnden Schleier näher gekommen waren. Sie ahnte, dass ihre unfreiwillige Isolation dem Ende entgegen ging und sie in den nächsten Stunden die Chance bekam zu erfahren, wo ihr Mann abgeblieben war und Gitta die ärztliche Hilfe bekommen würde, die sie brauchte. Weitere drei Stunden später sah sie Soldaten der NVA den Weg zur Haustür frei schaufeln und dabei in hohen Bögen den Schnee nach links und rechts werfen. Zumindest zu Fuß konnte man wieder die knapp tausend Meter bis zur Hauptstraße laufen.
Wie eine Fischgräte zogen sich die freigeschaufelten Wege durch die Siedlung mit einem Abzweig zu jedem Haus. Ihr Haus ganz am Ende war das Kopfstück der Gräte. An der Hauptstraße wartete der schwarze Kastenwagen, während sich die zwei Männer vom Bestattungsinstitut in dicken schwarzen Mänteln, einer vorn und einer hinten vom Zinksarg, gegen den eisigen Wind stemmten. Elisa sah ihnen vom Küchenfenster aus zu, wie sie sich Meter für Meter zum letzten Haus in der Siedlung durch kämpften. Sie öffnete ihnen die Tür, fragte, ob sie sich vielleicht einen Moment bei ihr aufwärmen wollten. Sie wollten nicht. Sie ließen sich die Wohnungstür aufschließen. Elisa wies ihnen den Weg ins Schlafzimmer, betrat aber selbst die Wohnung nicht noch einmal. Vom Hausflur aus hörte sie das dumpfe Geräusch, als die beiden den Sarg absetzten. Sie hörte ihr Ächzen und Fluchen. Harald war kein Leichtgewicht, das bisschen Seele, das entwichen war, wenn er denn überhaupt eine hatte, machte ihn nicht leichter.
Einen Moment dachte sie darüber nach, was eigentlich passierte, wenn jemand zu dick für den Sarg war. Harald schien hinein zu passen. Sie hörte das metallische Aufsetzen des Deckels und kurz danach hievten die beiden Männer den Sarg durch die enge Wohnung hinaus in den Hausflur. Sie hielt die Haustür auf und dachte, dass sie jetzt wenigstens den Wind im Rücken hatten. Sie dachte, dass es wenigstens nicht ihr Mann war und erschrak.
Der 5. Tag
Am Mittwoch endlich gab es wieder Strom und auch in der Schule funktionierte die Umwälzpumpe der Heizung wieder. Die Schüler stapften bis über die Nasen vermummt in die Schule. In ihren Wimpern froren Wassertropfen zu Eisperlen. Als Elisa sich der Schule näherte, sah sie ihren Wartburg neben dem Schulhof stehen und ihr Herz begann zu klopfen. Er musste da sein. Sie traf ihn im Lehrerzimmer. Sie umarmten sich. Für lange Erklärungen war keine Zeit, die Klingel schrillte dazwischen. Aber es gab ja auch nichts zu erklären, der Schnee hatte die Orte voneinander abgeschnitten und das Zurückkehren unmöglich gemacht. Das war klar wie Kloßbrühe, hätte Elisas Mutter gesagt. Er war gekommen, so schnell es die Schneemassen zuließen.
Als Matthias und das Kind, das immer noch fieberte, im Bett waren, zog er eine Pralinenschachtel aus seiner Aktentasche und legte sie vor Elisa auf den Tisch. Sie sah überrascht auf die Pralinenschachtel und konnte sich nicht vorstellen, wo er die in all dem Chaos aufgetrieben hatte.
„Danke“, sagte er und küsste sie.
„Wofür bedankst du dich?“ Elisa war erstaunt. Er irritiert.
„Dass du…“, er hielt inne und Elisa begriff, dass nicht der Schneesturm ihn von ihr fern gehalten hatte. Sie nahm die Pralinenschachtel, riss die Packung auf, griff nach einer Praline und reichte sie ihm.
„Iß!“
Ihr Ton verbot jede Widerrede. Dabei wusste sie doch, dass er keine Schokolade und überhaupt nichts Süßes aß, dass ihm schlecht wurde davon. Er öffnete widerwillig den Mund und ließ sich die Praline in den Mund schieben.
„Weiter!“ befahl Elisa. Er wagte keinen Widerspruch. Elisa schob ihm eine Praline nach der anderen in den Mund. Kaum war die letzte Praline verschwunden, eilte er ins Bad. Elisa folgte ihm, sah reglos zu, wie der braune Schokoladenbrei in die Kloschüssel schwappte, und sagte in eine Pause hinein, in der er mit rotem Kopf nach Luft rang:
„So – genau so – fühlt es sich an: zum Kotzen“, drehte sich um, ging ins Schlafzimmer, holte sein Bettzeug und packte es auf die Couch im Wohnzimmer.
Der 6. Tag
In der Nacht stieg das Fieber. Das Kind warf sich hin und her, sog mit rasselndem Geräusch die Luft ein. Das Haar klebte ihm an der Stirn. Elisa war ratlos. Der Vater war zu Hause, aber das Kind wurde dieses Mal nicht gesund. Sie riefen den Notarzt. Der wies das Kind ins Krankenhaus ein.
Der 7. Tag
Auf der Lungenstation lagen sonst fast nur Männer. Hohlwangig schlurften sie in gestreiften Bademänteln über den Flur, krümmten sich unter Hustenanfällen, mussten sich an den Handläufen an der Wand festhalten, damit die Schwindelattacken sie nicht umwarfen. Das Kind sah ihnen ähnlich, als Elisa es das letzte Mal sah. Die Schwester legte ein weißes Laken über sein blasses Gesicht.
Elisa wankte aus dem Krankenzimmer, das ein Totenzimmer geworden war. Hangelte sich an den Handläufen den Flur entlang, fand den Fahrstuhl nicht, stolperte die Treppen hinunter auf die Straße. Lief, ohne zu wissen wohin. Strandete in der winterkalten Kirche, sprach ohne Stimme das Vaterunser, das sich aus den Tiefen ihres Gedächtnisses nach oben gegraben hatte. Sprach: „… vergib uns unsere Schuld“ und „…erlöse uns von dem Bösen“ und sah hinauf zu dem Fenster, wo Maria anstelle des Kindes ein vernageltes Viereck trug.